Neue Liebe in der Ehe

Erschienen in: Mittelbayrische Zeitung
Erschienen am:  30.04.1994

Der junge Bauernsohn Melchior Paur war beim Sturz vom Stadldach "auf den Mund gefallen". Zwischen Hopfengärten und Kornfeldern, an einer Feldwegkreuzung zwischen Türkenfeld und Schmatzhausen bei Hohenthann, hat er seine Stimme wieder gefunden, als er Wasser aus einer Quelle schöpfte. Von der Heilung aus dem Jahre 1662 berichtet eine Urkunde im Bayerischen Staatsarchiv der Burg Trausnitz in Landshut. Wunderbares Heiligenbrunn: 330 Jahre später finden in dem Marienwallfahrtsort im Süden der Diözese Regensburg Ehepaare wieder zu einer gemeinsamen Sprache. Der Sprache der Liebe, der Offenheit und Ehrlichkeit. 1993 "pilgerten" 900 kleine und große Gäste aus dem gesamten deutschen Sprachraum zu dem geistlichen Familienzentrum. Es ist katholischerseits das einzige seiner Art.

 

Sie kommen aus Paderborn, Kassel, aus dem Ruhrgebiet und - sehr viele - aus Baden-Württemberg. Zehn Prozent der Gäste stammen aus den Diözesen Regensburg und Passau. Es sind Menschen, die in einer der christlichen Erneuerungsbewegungen bereits "vorgewärmt" sind, und, immer mehr, Menschen in Beziehungsnot. Die Atmosphäre ist so vertrauensvoll, dass man die Scheu, sich in Gesprächsgruppen zu öffnen, überwinden kann. Liebes- und Leidensgeschichten: Beate und Hans B., zwei Söhne, hatten sich nichts mehr zu geben. Er liebte seine Hobbys, die Klarinette, das Saxophon und suchte die Gemeinschaft der Stadtkapelle, sie brütete zu Hause in ihren Depressionen. "Ich hatte Angst vor unserem 25. Hochzeitstag, an dem wir heile Welt spielen mussten", gesteht Beate. Sie dachte an Selbstmord. Die Wende kam in Heiligenbrunn: "Mit Gottes Hilfe haben wir unsere Liebe erneuert."

Helmut S., Beamter einer Bundesbehörde mit Sitz in München, sagt von sich: "Ich war ein absoluter Hypochonder. Bei einem normalen Schnupfen setzte ich schon gleichsam meine Todesanzeige auf. Meine Frau war für mich Mutter und Gott in einer Person. Ich erwartete von ihr alles. Das hielt unsere Beziehung nicht aus." Helmut, vor allem aber seine Frau, empfanden die christliche Prioritäten-Pyramide als Befreiung, nämlich Gott an die erste Stelle des Lebens zu setzen, dann den Partner, Kinder und Beruf. Heute dankt seine Frau, "dass ich nicht allein für meinen Mann da sein muss, dass er nicht alles von mir erwarten braucht und ich unter einem solchen Druck zusammenbrechen müsste".

Hans-Bernd G., erfolgreicher Orthopäde aus dem Sauerland und Vater von vier Söhnen, klagt über seine gestörte Kommunikation in der Familie: "Mein Beruf frisst mich auf. Aus Angst vor dem Versagen will ich immer 150prozentig sein. Ich laufe in der Praxis immer wie ein Hase der Zeit hinterher. Zu Hause muss ich erst mal vor Zeitung und Fernseher abdampfen. Und wenn ich dann gesprächsbereit bin, so gegen halb zehn Uhr, ist meine Frau schon müde." Der Ausgang dieser Geschichte ist noch offen. Der Orthop„de nahm mit nach Hause, "dass Christsein mehr ist als das Tischgebet und am Sonntag in die Kirche zu gehen. Das ist schon mal was", sagte er. Der Spruch der Referentin, ein halber Christ sei ein ganzer Unsinn, hatte den Sauerländer stark beeindruckt.

Alarmlämpchen leuchten auch in christlichen Ehen auf. Sie zeigen an: In ihrem internationalen Jahr nähert sich bei den belächelten, vor Wahlen hochgelobten, guten alten Familienkutschen "die Tanknadel dem roten Bereich". Ehe und Familie, die propagierten Zugpferde der Gesellschaft, stehen auf Reserve.

Die Zahlen des Statistischen Landesamtes Bayern von Anfang April dieses Jahres berichten von 23 011 geschiedenen Ehen 1993, eine Steigerung um elf Prozent. Jede zweite Ehe in Deutschland endet vor dem Scheidungsrichter. Probleme werden immer bereitwilliger durch Trennung gelöst. Zwei Drittel der betroffenen Kinder sind in einem Alter, in dem sie sehr sensibel auf Trennung reagieren (drei bis neun Jahre). Der häufigste Scheidungszeitpunkt liegt zwischen dem vierten und sechsten Ehejahr, stellt der eben erschienene Jahresbericht des Regensburger Modellprojekts "Familienberatung bei Trennung und Scheidung" fest. Durch Mietsteigerung und Reallohnverluste geht es den Familien auch finanziell schlechter, konstatierte das Familienhilfswerk Bayern. Dass zwölf Prozent weniger Hochzeiten gefeiert werden, Ehen ohne Trauschein florieren, wen wundert`s?

"Die Tatsache, dass eine Ehe nicht geschieden ist, darf keineswegs als Zeichen dafür gewertet werden, dass sie intakt ist", schreibt der Psychotherapeut Wilhelm Bitter in seinem Buch "Der Verlust der Seele". Die "Keimzelle der Gesellschaft", wie man die Familie in Schulzimmer und Kirche bezeichnete, verkommt zur bespöttelten Witzfigur. Das Negativ-Image zeigt Binnenwirkung. Gerade in Zeiten allgemeiner Reizüberflutung. "Liebesehen" werden im Ehealltag bald als erlebnisarm empfunden. Folge: Die schönste Frau, die nettesten Kinder, das schönste Haus werden langweilig. Statistische Tatsache: Ganze sieben Minuten lang unterhält sich das Durchschnittsehepaar - pro Tag wohlgemerkt.

Eine kleine Gegenwelt mit manchmal pastoralen, mitunter auch skurrilen Zügen existiert 15 Kilometer südlich von Langquaid. "Hier ist der Himmel am nächsten", lacht Pater Markus. Und schon ist es einem nicht mehr so schwer ums Herz. Lärchen schrauben sich in den niederbayerischen Himmel, der in einen leicht hügeligen Horizont übergeht, die Sonne legt sich warm auf den Feldweg, im Hintergrund schlägt die Glocke von Mariä Heimsuchung. Szenen wie diese könnten aus einem kitschigen Heimatfilm stammen. In Heiligenbrunn kann man in den Kurszeiten an Ostern, Pfingsten und in den großen Sommerferien schon mal beobachten, dass ein geistlicher Begleiter eines Ehepaar-Kurses zum Beichtgespräch in Gottes freier Natur bittet. Junge Eltern ganz kleiner Kinder gehen Arm in Arm durch die Fluren - allein, ohne Anhang. Sie wissen ihren Nachwuchs in guten Händen. Manchmal bleiben sie stehen. Sie haben sich viel zu sagen. Und Eheleute mit grauen Schläfen sitzen im Gras. Sie schreiben Liebesbriefe - wieder mal, nach 14 Ehejahren.

Dank Oma Irmgard, Sozialpraktikantin Katja und Erzieherin Anne sowie Ruth und Rita, den älteren Kindern aus der Lebensgemeinschaft "Familien mit Christus", die die Krabbelstube beaufsichtigen und abends vor den Zimmern Stallwache halten, haben Ehepartner Zeit füreinander. Die pensionierte Kindergärtnerin Irmgard zum Beispiel verbringt jährlich vier bis fünf Monate in Heiligenbrunn. Sie leitet den Kindergarten "aus Liebe zu Gott und aus Liebe zu den Kindern". Den Rest des Jahres widmet sie sich den eigenen Enkelkindern.

Der Dank an die Betreuer bleibt nicht aus. "Und endlich hatten wir wirklich Zeit füreinander, ohne dauernde Ablenkung und ohne schlechtes Gewissen wegen der Kinder. Vielem, was zu Hause gegärt hat, wurde hier Zeit gegeben, herauszukommen", bilanziert das Ehepaar H. aus Singen nach zehn Tagen Heiligenbrunn. In den Abschlussgesprächen der Kurse wird von den Teilnehmern immer wieder die liebe- und vertrauensvolle Atmosphäre des geistlichen Zentrums betont. Die Offenheit allen christlichen Strömungen gegenüber, die Erfahrung der Gemeinschaft, vor allem - eigentümlicherweise - in den Gottesdiensten, die von allen als wunderbar erlebt werden.

"Jede erneuerte Ehe ist ein Beitrag für eine erneuerte Gesellschaft und eine geistliche Erneuerung der Kirche", sagt Franz-Adolf Kleinrahm, als Diakon verantwortlich für das Kursprogramm der Lebensgemeinschaft "Familien mit Christus". Deswegen lohne es sich, für diese Institution zu kämpfen. Der 42jährige ehemalige Journalist ist seit 20 Jahren mit seiner Angelika verheiratet. Sie haben vier Kinder im Alter zwischen sechs und 16 Jahren. Als die Kleinrahms vor zehn Jahren im Rahmen einer Eucharistiefeier ihr Eheversprechen erneuerten, stellten sie Gott einen Blankoscheck aus. Damals sagten sie in ihrem frei formulierten Gebet: "Herr läutere Du in uns die Gabe der Gastfreundschaft, und, wenn Du es willst, heile Du durch uns Ehen."

ER wollte es so. Und so zog der studierte Diplom-Theologe aus Paderborn als, wie er es nennt, "Wanderprediger mit eigenen Kindern im Gepäck" in seiner Freizeit durch neun Diözesen, um insgesamt 19 fünf- bis zwölftägige Familienexerzitienkurse durchzuführen, ehe er mit einer Lebensgemeinschaft aus vier Familien und zwei Einzelpersonen 1989 in Heiligenbrunn ein festes Haus bezog. Die Männer waren von Beruf Krankenpfleger, Augenarzt, Koch und Lokführer. Eine Ordensschwester wurde für neun Monate als Starthelferin freigestellt. Die Gemeinschaft gab sich als Verein eine Satzung, die sie auf die Förderung des Ehe- und Familienlebens verpflichtete. 1989 erhielt "Familien mit Christus" die bischöfliche Anerkennung als kirchliche Gemeinschaft in der Diözese Regensburg. Am 1. Mai 1990 weihte Bischof Manfred Müller das Haus, das für 25 Jahre vom Hohenthanner St.-Josefs-Verein gemietet wurde, als Familienzentrum ein. Franz-Adolf Kleinrahm wurde vom Bischof für die Führung des Geistlichen Familienzentrums als Diakon angestellt.

Vollständige Familien, also Vater, Mutter, Kinder, und die alle gemeinsam und mit Freude t„glich bis zu zweimal beim Gottesdienst: Wer das noch nicht erlebt hat, der kann es bei den Familienkursen in Heiligenbrunn nachholen. Das Haus ist einfach, aber mit viel Liebe eingerichtet. Und der Garten ist so groß, dass er auch für 47 Kinder Platz hat. Apropos Kinder: Die haben sich in Heiligenbrunn noch selten gelangweilt. Sie gestalten in vier Altersgruppen ihr Programm, während die Eltern lernen, in Vorträgen, persönlichen Erfahrungsberichten, praktischen Übungen wieder zu herzlichen Verhältnissen zu finden. Teams aus Mitgliedern der Lebensgemeinschaft und Gastreferenten unterstützen die Eheleute bei den oft nicht leichten Lern-Aufgaben, "sich ein Ohr zu graben", um dem Partner wirklich zuzuhören und "von Herz zu Herz" zu sprechen. Wer nun Geschmack an der Sache "Familien mit Christus" gefunden hat, der kann in Heiligenbrunn, 84098 Hohenthann, das Jahresprogramm 1994 anfordern. Themen: "In der Ehe Gott erfahren" (9. bis 23. Juli), "Kinder sind eine Gabe Gottes" (28. Juli bis 6. August) und "Als Familie mit der Bibel leben" (10. bis 20. August). Am Sonntag, 17. Juli, 13 bis 18 Uhr, lädt Heiligenbrunn zu einem Tag der offenen Tür. Das Tagesmotto ist beziehungsreich: "Alle unsere Quellen entspringen in Dir, o Herr" (Psalm 87,7).

Helmut Wanner